Silke Sasano arbeitet bei Siemens in der Abteilung Corporate Technology und ist dort dafür zuständig, Innovationen voranzutreiben. Wir haben uns in München nach langer Zeit wieder getroffen. In einem interessanten Gespräch hat sie mir erzählt, was Siemens unternimmt, um an beschleunigten Märkten zu bestehen und wie Innovationen in einem traditionellen Großkonzern möglich sind. Im Interview gab Silke mir einen spannenden Einblick in die Unternehmenskultur und momentane Veränderungen des Weltkonzerns.
„Bei Siemens gibt es viele Unternehmenskulturen“
Stephan Grabmeier: Hallo Silke. Märkte entwickeln sich heute nicht mehr linear von einer Stufe zur nächsten. Vielmehr haben wir es mit einer Gleichzeitigkeit von Entwicklungen in verschiedenen Sparten, Branchen und regionalen Kontexten zu tun. Wie kann ein komplexer Konzern wie Siemens da noch wissen, welche Produkte morgen gefragt sind?
Silke Sasano: Wir müssen natürlich unsere Entwicklungs- und Forschungsprozesse an diese beschleunigten Märkte und Umwelten anpassen. Bei Siemens nutzen wir dafür zwei große Strömungen: Wir haben Teams, die sich mit der inhaltlichen Dimension befassen, also mit der Frage, was in Zukunft relevant sein wird. Welche Produkte, Lösungen und Services werden Kunden und Nutzer in Zukunft brauchen?
Und wir haben Teams, die sich mit der Umsetzung dieser Vorschläge in den komplexen Umwelten beschäftigen. Sprich: Wie kann man das Produkt oder die Dienstleistung gestalten, dass es auf der einen Seite technologisch umsetzbar ist und auf der anderen Seite auch die Anforderungen der Kunden erfüllt?
Damit aus diesen Strömungen innovative Produkte entstehen, ist ein ausgeglichenes Zusammenspiel zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ notwendig, das oft auch zu einem kunstvollen Balance-Akt wird.
Wird es in Zukunft überhaupt noch „fertige“ Produkte geben – oder nur derzeit beste Lösungen?
Mit Sicherheit werden wir in Zukunft mit wesentlich mehr „Luft“ designen. Damit meine ich, dass wir eine Basis-Version entwickeln, die schnell auf den Markt kommt. In dieser Basis-Version sind aber bereits Updates und Weiterentwicklungen eingeplant, ohne zu wissen, wie diese dann konkret aussehen werden.
Ein gutes Beispiel ist Tesla. Der Konzern hatte die Idee des autonomen Fahrens, aber noch keine Ahnung, wie das dann technologisch und als Produkt ausgestaltet werden sollte. Trotzdem steckte der Konzern schon maximale Rechenleistung in das Projekt.
Es geht also darum, den Lebenszyklus von Produkten zu verlängern, indem man Updates schon miteinplant – ähnlich wie bei Apps.
Das bedeutet für Unternehmen doch auch ein Risiko. Schließlich investieren sie in etwas, von dem sie noch gar nicht wissen, ob und wie es technologisch und am Markt funktionieren wird. Mehr Unsicherheit als je zuvor?
Aber nicht zu investieren, keine „Luft“ zu lassen, bedeutet eben auch ein großes Risiko. Denn durch das Investment schafft man sich Zukunftsreserven. Verzichtet man aber auf diese Reserven, dann ist man unflexibel und kann seine Produkte nicht optimieren und anpassen. Heute geht es eben darum, schnell etwas Neues auf den Markt zu bringen – und das geht am besten mit einer Basis-Version. Vieles hängt ja auch an der Infrastruktur, in die ein Unternehmen wie Siemens viel Geld steckt: Hohe Investitionen in der Gegenwart müssen für die Zukunft flexibel sein, da sie sich sonst nicht rentieren.
Ist das Konzept der Marktforschung, bei dem eine große Zahl potenzieller Kunden über ihre Wünsche und Bedürfnisse befragt wird, noch zeitgemäß, wenn man als Unternehmen innovative Produkte entwickeln möchte?
Ich denke nicht, dass die klassische Marktforschung tot ist. Aber ich denke, dass die Zeiten vorbei sind, in denen wir nur auf die Marktforschung bauen konnten. Heute braucht es eine Mannigfaltigkeit an Instrumenten.
Wir bei Siemens nutzen einen Methodenmix aus qualitativen und quantitativen Herangehensweisen. Mit Konzeptprototypen, für die wir Kundenfeedbacks verschiedener Gruppen einholen und qualitativen Interviews bekommen wir eine Basis von Kundenmeinungen. Darauf aufbauend können wir dann quantitative Befragungen durchführen, die dank dieser Erkenntnisse sehr fokussiert und detailliert sind. So kommen wir zu weit verlässlicheren Ergebnissen als nur mit einer Methode.
Wenn sich Märkte beschleunigen, neue Internet-Geschäftsmodelle in rasanter Geschwindigkeit neue Märkte revolutionieren, dann müssen doch auch tradierte Unternehmen ihre Entwicklungsprozesse beschleunigen. Wie geht das?
Das geht nur mit agilen und iterativen Methoden – z.B. Scrum oder Design Thinking. Sie helfen uns dabei, flexibler zu agieren, schneller Produkte auf den Markt zu bringen und Kundenbedürfnisse zu berücksichtigen. Gerade wenn wir es mit langen Entwicklungsprozessen zu tun haben, ändern sich die Anforderungen der Kunden oft im Laufe des Prozesses. Darauf müssen wir als Unternehmen reagieren können.
Für Organisationen bedeutet das, dass sie Verantwortlichkeiten neu aufteilen müssen. Wenn Innovationen schnell auf den Markt kommen sollen, dann können nicht mehr alle Hierarchieebenen und Abteilungen in alle Projekte eingebunden werden. In einem großen und traditionellen Unternehmen wie Siemens treffen da mitunter Welten aufeinander: Auf der einen Seite finden wir Mitarbeiter, die wie in einem Start-up agieren, auf der anderen die Trägheit eines Großkonzerns mit Personen, die Veränderungen eher ablehnen und vielleicht sogar blockieren. Neue Lösungen und Vorgehensweisen zu entwickeln ist also notwendig, aber auch oft eine Herausforderung.
Moderne Managementmethoden wie Scrum oder Kreativitätstechniken wie Design Thinking sind mittlerweile sehr bekannt und werden in vielen, vor allem agilen, Unternehmen seit Jahren erfolgreich genutzt, um Produkte zu entwickeln. Was ist der nächste Schritt?
Ich denke in Zukunft geht es vor allem darum, sie gut bzw. noch besser zu nutzen und sie auch zu kombinieren. Je nach Abteilung oder Projektziel eignen sich verschiedene Methoden. Durch die Kombination entsteht wiederum Neues. Wir bei Corporate Technology bündeln genau die angesprochenen Methoden, picken uns sinnvolle Elemente heraus und schaffen daraus genau die Methode, die für uns und unser Projekt passt. So schaffen wir mehr Kundenorientierung, echte Innovation und können durch das iterative Vorgehen schneller Ergebnisse vorweisen.
Vor allem große, internationale Konzerne wie Siemens agieren träger als kleine und flexible StartUps. Politische interne Querelen und Entscheidung in Command-and-Control-Strukturen verhindern Innovationen, lange bevor sie auf den Markt kommen. Wie geht Siemens mit diesem Problem um?
Ein komplexer Großkonzern lässt sich natürlich nicht mit einer einzigen Maßnahme umkrempeln. Stattdessen drehen wir an vielen Stellschrauben, um die Unternehmenskultur bei Siemens für die Zukunft so zu gestalten, dass wir ein innovatives Unternehmen bleiben.
So nutzt z.B. der Vorstand um Joe Kaeser soziale Netzwerke, um Mitarbeiter in die Gestaltung des Konzerns miteinzubeziehen. Kürzlich stellte er an alle die Frage, wie wir die Komplexität im Unternehmen reduzieren können, um zum einen möglichst viele einzubeziehen und zum anderen natürlich auch möglichst viele Perspektiven auf das Thema zu bekommen. Langfristig sollen die Strukturen im Konzern vernetzter werden.
Mit einem neuen Konzept unter dem Arbeitstitel „Innovation AG“ schaffen wir für unsere Mitarbeiter die Möglichkeit, StartUps zu gründen, um ihr eigenen Innovationen voranzutreiben. In der Siemens Corporate Technology wurde Quickstarter pilotiert, es funktioniert ähnlich wie Crowdfunding, nur dass die Crowd kein eigenes Geld einsetzt: Mitarbeiter posten Ideen und die Community verteilt ein vom Management zur Verfügung gestelltes Budget auf die Ideen. Mit diesen und anderen Mitteln versucht Siemens gerade, neuen Schwung in das Innovationsthema zu bringen.
Unternehmen, die Innovationen entwickeln, müssen konsequent eine Führungs- und Unternehmenskultur leben, die das begünstigt. Wie würdest Du die Unternehmenskultur bei Siemens beschreiben?
Die eine Unternehmenskultur bei Siemens gibt es nicht. Wir haben sehr viele Geschäftsbereiche – und in denen haben wir auch jeweils verschiedene Unternehmenskulturen. Für alle kann ich nicht sprechen, aber z.B. über Healthcare, und Corporate Technology weiß ich ein bisschen Bescheid.
Man trifft bei Siemens, wenn man mit dem Thema Innovationen zu tun hat, stets auf begeisterte Leute. Das ist ein Grund, warum ich auch nach vielen Jahren immer noch gerne bei Siemens arbeite: Das Leuchten in den Augen, Menschen, die ein Thema einfach toll finden und aus sich heraus motiviert mit viel Kraft Dinge voranbringen.
Klar wird dieses Leuchten auch immer mal wieder ausgebremst, wenn zu viele Bedenkenträger da sind. Aber die ursprüngliche Begeisterungsfähigkeit ist da und wird zunehmend vom Top-Management geschätzt. Bei Healthcare, wo wir z.B. Kernspintomographen entwickeln und herstellen, gibt es sehr viele Technologiebegeisterte, die mit ihren Ideen die Welt verbessern wollen. Das sind große Themen, die ohne intrinsische Motivation und ohne diesen Drive gar nicht funktionieren würden.
Wir wissen aber auch, dass wir an manchen Stellen noch sehr viel Arbeit vor uns haben. Wir müssen die Zusammenarbeit über die Hierarchien und die Geschäftseinheiten stärken und uns im Konzern stärker vernetzen. Die Bereitschaft dazu ist da und erste Schritte in diese Richtung haben wir bereits getan.
Silke, ich danke Dir für den spannenden Blick in die Innovationskultur bei Siemens und wünsche Dir weiterhin viel Erfolg. Ich kann mir vorstellen welche Aufgabe vor Dir liegt, einem großen Elefanten das Tanzen beizubringen.
Über Silke Sasano
Silke Sasano ist Senior Key Expert für Innovation Management bei Siemens Corporate Technology. Seit über zehn Jahren befasst sie sich mit den Themen Innovation, Strategieentwicklung und Organizational Behavior. Dabei ist sie vor allem vom Wechselspiel klarer Analytik und kreativen Spinnens immer wieder begeistert. Ihr derzeitiger Arbeitsschwerpunkt umfasst Strategic Foresight und Trend Monitoring & Make Rapid Innovation: bei diesen Themen geht es sowohl um das Erkennen von neuen, relevanten Entwicklungen als auch um das Identifizieren von zukünftigen Geschäftspotentialen. Silke Sasano ist in zahlreichen internationalen Zukunfts- und Trend-Netzwerken vertreten.
Hat Joe Kaeser wirklich gefragt, wie die Komplexität im Unternehmen reduziert werden kann? Eigentlich geht es doch darum die Komplexität im Unternehmen zu erhöhen, um der Komplexität des Marktes gerecht zu werden (Ashbysches Gesetz)? (Dazu gab es eine wertvolle Blogparade vom Berliner PM Camp http://berlin.pm-camp.org/2015/07/21/blogparade-komplexitaet-projekte/)
In diesem Fall ging’s v. a. um die Reduktion der internen Komplexität im Konzern.
Da gibt’s auch meiner Ansicht nach Reduktionspotential.