Wer von Euch hat das Buch die Flash Boys gelesen? Dabei geht es um die Entwicklung des Börsengeschäfts zum automatisierten Hochfrequenzhandel. Basierend auf den Möglichkeiten neuer Technologie haben die Flash Boys den Aktienhandel in ein neues Zeitalter gebracht und begonnen, alte Geschäftspraktiken disruptiv zu verändern. Kurz nachdem ich das Buch gelesen hatte (was ich übrigens jedem empfehle) bin ich in einem Artikel der New York Times „Pop up Employer“ auf den Begriff Flash Organizations gestoßen. Ich habe das damals in die Buzzword Bingo Schublade „ab jetzt heißt wohl alles Flash“ abgelegt und mich nicht weiter damit befasst. Seit einigen Monaten stoße ich immer wieder auf den Begriff und die damit verbunden Herausforderungen für Unternehmen. Den Anstoß für diesen Blogbeitrag gab ein Vortrag und die gute Diskussion von Reza Moussavian, Head of Digital und Innovation (HR) der Deutschen Telekom AG zur Studie „Work 2028“, die Reza bei unserem Januar Lunchtalk im Kienbaum Headquarter vorgestellt hat. Dabei sind Flash Organizations intensiv diskutiert worden. Trendstudien zeigen eine eindeutige Entwicklung dazu auf. Es ist also Zeit, Flash Organizations genauer unter die Lupe zu nehmen.
Wozu brauchen wir Flash Organizations?
Für Unternehmen stellen sich heute diese zentralen Herausforderungen:
- Sie müssen immer komplexere Probleme lösen, für die umfassende Expertise schnell notwendig ist und
- die Themen passen immer weniger in die gewachsenen pyramedialen Organisationsstrukturen, sondern sind Querschnittsthemen, die diverse Expertise aus verschiedenend Abteilungen fordern.
- Der Innovationsdruck steigt: In immer kürzeren Abständen kommen neue Produkte und Services auf den Markt – der Wettbewerb ist auf Speed.
Eine neue Form des Arbeitens, die mit diesen Herausforderungen umgehen kann, sind Flash Organizations.
Flash Organizations: Unternehmen für kurze Zeit
Das Modell der Flash Organizations wurde 2017 von den Stanford Professoren Melissa Valentin und Michael Bernstein entwickelt. Langsam werden sie auch hier bekannt und zunehmend eingesetzt, da mit ihrer Hilfe, anders als z.B. beim Crowdsourcing, auch komplexe Projektvorhaben mit offenem Ausgang schnell und effektiv umgesetzt werden können.
Flash Organizations
- sind zeitlich begrenzt für die Dauer eines Projektes.
- sind hierarchisch strukturiert.
- haben Rollenvorgaben mit zugewiesenen Kompetenzen.
- werden IT-gestützt sehr schnell gebildet.
- existieren ausschließlich virtuell.
- nehmen Mitarbeiter aus einem bestimmten Pool nach Bedarf unter Vertrag.
Von Crowdsourcing zu Flash Organizations
Entwicklung von Flash Organizations 2017 in Stanford
Vor etwa zehn Jahren entstand mit dem Ausbau des Web 2.0 das Crowdsourcing, bei dem Teilaufgaben aus Projekten an Menschen – die Crowd – vergeben werden. Mittlerweile hat sich Crowdsourcing in der Praxis bewährt und wird vielfach genutzt. Allerdings sind auch Grenzen von Crowdsourcing zu Tage getreten: Dieses funktioniert nur, wenn
- Projekte in kleine, klar definierte Teilaufgaben mit klarer Zielsetzung zerlegt werden können.
- das Gesamtprojekt vorab detailliert geplant werden kann.
- die Crowdworker voneinander unabhängig arbeiten können.
- Anpassungen während des Projektes nicht notwendig sind.
Ein Forscherteam der Stanford University hat – auch in Reaktion auf diese Grenzen – 2017 das Modell der Flash Organizations entwickelt und in Fallstudien getestet (Das Paper ist hier zum Download: https://hci.stanford.edu/publications/2017/flashorgs/flash-orgs-chi-2017.pdf).
Von Crowdsourcing zu Flash Organizations
Flash Organizations heben die Beschränkungen von Crowdsourcing weitgehend auf. Denn sie kombinieren digitalisierte Crowdsourcing-Techniken mit temporären Organisationsstrukturen.
Dies fördert ein integriertes Vorgehen bei Planung und Koordination der Aufgaben. Dadurch erreichen sie höhere Komplexität und können somit auch komplexere Aufgaben bewältigen. Während Crowdworking z.B. zum Testen von Software oder für Marktforschungszwecke eingesetzt wird (Lest zur Nutzung kollektiver Crowd Intelligenz auch meinen Artikel über Social Forecasting) können Flash Organizations auch in umfangreicherer Software-Entwicklung oder im Produktdesign zur Erstellung von fertigen Ergebnissen und nicht nur Teilen davon genutzt werden.
Flash Organizations können also auch Prozesse bearbeiten, die nicht vorher komplett ausdefiniert sind, da Anpassungen jederzeit und unbegrenzt möglich sind. Sie gehen agil vor und modifizieren sowohl Aufgaben als auch das Team während des Projektes.
Flash Organizations: Benefit für Auftraggeber und Projektmitarbeiter
Crowdsourcing: Grenzen der digitalen Arbeitswelt
Neben den Grenzen bei der Art der Projekte, die durch Crowdsourcing umgesetzt werden konnten, treten manchmal auch soziale Probleme im Zusammenhang mit Crowdsourcing auf.
Die größten Kritikpunkte sind:
- Preisverfall: Leistungen, die früher von Experten erbracht wurden, kommen heute oftmals von Laien und werden von diesen deutlich kostengünstiger angeboten.
- Entfremdung: Durch die Zergliederung von Projekten in kleine Teilaufgaben verliert der Einzelne das große Ganze aus dem Blick und sieht dadurch weder Sinn noch Erfüllung in seiner Arbeit.
- Unsicherheit: Online-Arbeitsmärkte fördern das schnelle Hire and Fire und erhöhen den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt massiv.
Flash Organizations bieten Purpose und Motivation in der digitalen Arbeitswelt
Flash Organizations, wie sie beispielsweise COMATCH nutzt, versuchen diese Probleme zu lösen. Zum einen, um die digitale Arbeitswelt stärker auf den Menschen auszurichten. Zum anderen, um das Arbeiten effektiver und effizienter zu machen. So ist beispielsweise erwiesen, dass miteinander vertraute Teams besser zusammenarbeiten als solche, die nur für kurze Zeit zusammengewürfelt werden. Längerfristige Karriereplanung, die Weiterentwicklung und der Ausbau der eigenen Fähigkeiten und ein stabiles Einkommen sind weitere Aspekte, die im Vergleich zu Crowdworking verbessert werden können. Durch die höhere Komplexität der Aufgaben, die Zusammenarbeit und Kommunikation in Teams und den Gesamtblick auf das Projekt erhöht sich auch die Identifikation mit den Aufgaben und damit die Erfüllung, die Menschen in ihrer Arbeit finden.
Flash heißt optimale Teams in kürzester Zeit zusammenstellen
COMATCH ist ein Online-Marktplatz für Berater und versetzt seine Klienten in die Lage Flash Organizations zu nutzen. Den Vorteil von Flash Organizations sieht Christoph Hardt, Geschäftsführer und Co-Founder, in zwei Aspekten:
- Geschwindigkeit der Team-Zusammenstellung
- Qualität der Auswahl der Projektmitarbeiter
Beides wird durch ein modern diagnostisch- und digital gestütztes Auswahlverfahren der Mitarbeiter gewährleistet. Die Voraussetzung für Flash Organizations ist ein Pool aus qualifizierten Experten, die in einer Datenbank erfasst sind. Das können in großen Unternehmen alle Mitarbeiter sein, die auch in verschiedenen (internationalen) Standorten und/oder Abteilungen tätig sind, ergänzt um externe Experten, die nach Bedarf an Bord geholt werden können. So entstehen virtuelle und globale Teams.
Auch die Telekom hat sich an die Umsetzung interner Projektmarktplätze gemacht und nutzt seit vielen Jahren ein ähnliches Vorgehen, wenn sie Projektteams zusammenstellt. Sie greift dafür auf Pool Organizations zurück. In einem Pool von mehreren hundert Leuten befinden sich Telekom-Mitarbeiter mit verschiedenen Kompetenzen. Diese werden dann von der Projektleitung ausgewählt und zu einem Projektteam zusammengestellt. Allerdings nutzt die Telekom in ihren Pool Organizations bislang noch keine digitalisierten Auswahlverfahren.
Algorithmus schlägt vor, Mensch entscheidet
COMATCH arbeitet seit zwei Jahren daran, seinen Algorithmus für die Mitarbeiterauswahl zu schärfen und hat 6.000 Experten interviewt, detaillierte Performance-Daten zu ihnen abgelegt und bewertet. So kann der Algorithmus binnen kurzer Zeit aus den 6.000 Experten, die sich in der Datenbank befinden, 20 bis 25 auswählen, die die relevanten Kompetenzen besitzen. Am Schluss steht aber der menschliche Blick, der qualitätssichernd die Endauswahl trifft.
Mithilfe dieses digitalen Matching haben Projekte eine weitaus kürzere Vorlaufzeit: Im Vergleich zum herkömmlichen Vorgehen, mit dem es teils sechs Wochen dauert, bis das Projekt starten kann, klappt das mit Flash Organizations binnen drei Stunden. Eine saubere Datenbasis und gute Algorithmen sorgen für Geschwindigkeit – Flash eben.
Jovoto: Freelancer auf dem Online-Arbeitsmarkt mit Karriereplanung
Ein weiteres Unternehmen, das die sozialen Probleme der digitalen Arbeitswelt, die in vielen Fällen zu Lasten kreativer Berufe geht, schon lange erkannt hat, ist Jovoto. Jovoto-Gründer Sebastian Unterberg will mit seiner Crowdtalent Plattform Designern und anderen Kreativen, die Möglichkeit bieten, frei und projektbezogen zu arbeiten und trotzdem gewisse Sicherheiten zu erreichen. Wie Bastian mir 2017 in meinem Business Rebellen-Talk erzählt hat, soll Jovoto nicht nur eine Plattform sein, auf der Freelancer ihre Leistungen verkaufen können. Vielmehr ist Jovoto ein Talent Assessment Center, in dem man experimentieren, seine Fähigkeiten ausprobieren und weiterentwickeln kann.
Die Besten bekommen aber Zugang zu größeren Projekten und Unternehmen, erlangen höhere Tagessätze und garantierte Bezahlung. So sind Weiterentwicklung, Karriereplanung und mehr Sicherheit auch auf dem Online-Arbeitsmarkt möglich.
Andersherum bietet Jovoto den Arbeitgebern auch Abstufungen in den Kompetenzen und mithilfe eines dedizierten Bewertungssystems eine höhere Treffsicherheit, um die „richtigen“ für die jeweilige Aufgabe zu finden.
GigWork: Pflegenotstand bekämpfen, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stärken
Einen ganz anderen Bereich hat die von Nicolai Kranz gegründete Plattform GigWork im Blick: Pflege- und Gesundheitsberufe. Wie wir alle wissen, herrscht vielerorts chronischer Personalmangel. Der Pflegenotstand ist beinahe täglich Thema in den Nachrichten. Bislang griffen viele Krankenhäuser, Reha-Einrichtungen und Heime deshalb auch Zeitarbeitsfirmen zurück, bei denen Pfleger, Schwestern, Ärztinnen und Ärzte unter Vertrag waren, um Lücken in den Dienstplänen zu füllen.
Mit GigWork gibt es nun eine Alternative, die ab Januar flächendeckend an den Start gehen soll und sich derzeit in der Testphase befindet. Die Plattform für Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus dem Gesundheits- und Pflegesektor vermittelt befristete Festanstellungen – eine Art Airbnb für Jobs, wie Gründer Nicolai Kranz die Plattform erklärt.
Auch bei GigWork sind Algorithmen für das Matching verantwortlich: Arbeitnehmer geben ihre Wünsche ein. Diese werden dann mit den Bedürfnissen der Arbeitgeber abgeglichen, so dass beide Seiten auf sie abgestimmte Vorschläge erhalten. Den Arbeitsvertrag schließen die beiden Parteien direkt miteinander ab – ohne den Umweg über eine Zeitarbeitsfirma, die jeden Monat zusätzlich kassiert.
Neben dem optimalen Matching und der Bekämpfung des Personalmangels werden so auch sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gefördert. Deshalb sehen auch Gewerkschaften die Entstehung solcher digitalisierter Matching-Modelle grundsätzlich positiv.
Fazit: Flash Organizations prägen die Zukunft von HR entscheidend mit
Digital gestützte Auswahlprozesse, wie sie Flash Organizations nutzen, werden immer wichtiger für HR. Denn sie sind schnell, effizient und effektiv. Dennoch muss der Mensch die finale Entscheidung treffen, da Algorithmen bislang noch nicht alles erfassen können, was notwendig ist. Je länger sie lernen und mit je mehr Daten sie gefüttert werden, desto besser werden sie in der Treffsicherheit ihrer Entscheidungen werden.
Bei alldem steht die Arbeitszufriedenheit der Projektmitarbeiter im Zentrum – Flash Organizations haben diese Aspekte zum Teil erkannt. Vorreiter wie Jovoto, COMATCH und GigWork stellen die Bedürfnisse von Experten, Kreativen, Freelancern, Ärzten und Pflegern sowie Projektmitarbeitern aller Art in den Mittelpunkt ihres Geschäftsmodells. Denn: Nur motivierte und zufriedene Mitarbeiter sind gute Mitarbeiter und bringen ein Unternehmen oder ein Projekt voran. Und gerade in den Gesundheitsberufen ist der Druck oft hoch und die Bezahlung niedrig. Mit einer Plattform wie GigWork verbessert sich zum einen die Verhandlungsposition der Fachkräfte hinsichtlich der Gehaltsvorstellungen. Zum anderen lassen sich so für die Mitarbeiter auch die Arbeitszeiten und die Aufgaben besser bestimmen. Die Arbeit an und mit Menschen erfordert hohe intrinsische Motivation. Hier lassen sich mit mehr Selbstbestimmtheit und größerer Wertschätzung die Bedingungen für alle Seiten verbessern.
Ich bin sehr gespannt, wie sich diese Arbeits- und Organisationsformen auch durch und mit der Digitalisierung weiterentwickeln und freue mich über Ihre Kommentare und Erfahrungen aus diesem Bereich.
Quelle Titelbild: Leon Contreras / Unsplash