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„Von Transformationen raten wir ab“ – Gerhard Fehr über Behavioral Change

Heute bin ich besonders happy. Ich durfte mit Gerhard Fehr sprechen, dem Bruder des wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler in DACH Prof. Ernst Fehr  – sein Gebiet Behavioral Economics. Gerhard ist überzeugt, dass Unternehmen nur erfolgreich sein können, wenn sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Gut das ist nicht neu. Genau da setzt die Arbeit seiner Beratungsagentur FehrAdvice an: Beim menschlichen Verhalten. Sein praktischer Ansatz übernommen aus der wissenschaftlichen Substanz seines Bruders heißt deshalb auch Behavioral Change. Nur wenn Führungskräfte und Unternehmenslenker systematische Handlungsmuster erkennen, verstehen und beeinflussen können, können sie auch die dazugehörigen Unternehmen umgestalten. Ich durfte mit Gerhard und seinem Team einige gemeinsame spannende Projekte umsetzen. Gerhard ist ein spannender Typ mit psychologischer und ökonomischer Expertise, die sowohl evidenzbasiert als auch praktisch erprobt ist. Sein Credo: Oft reichen kleine Veränderungen, damit große Wirkungen erzielt werden. Freut Euch auf ein lesenswertes Interview!

Bessere Entscheidungen durch Behavioral Change

Gerhard, wir kennen uns seit einigen Jahren und arbeiten immer wieder projektbasiert miteinander. Bitte stelle Dich kurz meinen Lesern vor. Wer bist Du? Wen oder was bewegst Du?

Ich bin 45 Jahre alt, habe zwei Kinder und bin beseelt von der Mission, dass es auf dieser Welt bessere Entscheidungen geben kann. Deshalb versuche ich mit evidenzbasierten Grundlagen der Verhaltensökonomie Wirtschaft und Politik dabei zu unterstützen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, um ihre nachhaltigen Ziele zu erreichen. Das tue ich, indem ich Menschen mit einfachen, nicht komplizierten Maßnahmen dazu bringe, ihr Verhalten zu verändern. So unterstütze ich Manager und Politiker dabei, bessere Entscheidungen zu treffen. Diesen Ansatz nennen wir Behavioral Change.

Transformation ist mehr denn je in aller Munde. Die meisten Transformationen misslingen aber oder starten erst gar nicht. Woran liegt das ?

Wer transformieren muss, der soll es lieber gleich lassen. Denn es ist kaum möglich, menschliches Verhalten grundsätzlich zu verändern, wenn einmal sozialnormative Strukturen entstanden sind. Da ist es einfacher, auf der grünen Wiese etwas Neues aufzubauen. Wir beraten also nicht bei Transformationen, sondern raten davon ab.

Meistens müssen Entscheider, egal ob in Politik oder in Unternehmen, viel weniger verändern, als sie glauben. In erster Linie muss sich menschliches Verhalten ändern – und zwar dort, wo es möglich ist. Eine echte Transformation beinhaltet die Veränderung soziokultureller Normen und dafür haben die meisten Unternehmen nicht die Zeit. Denn eine solche Transformation dauert 40 bis 50 Jahre. Unternehmen wollen aber nicht transformieren, sie wollen (und müssen!) Profit machen! Wir helfen dabei, sich fit zu machen für neue Gegebenheiten, indem sie sich an sie anpassen, damit sie der Gesellschaft etwas zurückgeben können. Zentral ist dabei, dass wir neue Methoden für neue Probleme brauchen.

Aktuell leben wir in einer Welt, in der sich viel verändert – z.B. Technologien und in der Folge auch Kundenwünsche und -bedürfnisse. Unternehmen und Politik agieren also in einem Umfeld mit vielen Unbekannten. In dieser sich schnell wandelnden Welt sind andere Techniken notwendig. Entscheider müssen sich von der Idee der ständigen Optimierung lösen. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen müssen sie viel mehr experimentieren, um neue Lösungsansätze für neue Probleme zu finden.

Wenn wir beispielsweise an die Digitalisierung denken, dann sprechen alle Prognosen dafür, dass durch sie in Summe mehr Jobs entstehen – auch wenn zahlreiche Arbeitsplätze verschwinden werden und bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht mehr gebraucht werden. A priori entsteht daraus also gesamtgesellschaftlich kein Problem. Es entsteht aber sehr wohl ein Problem für einzelne Firmen. Nun stellen wir uns nicht die Frage, wie wir diese Firmen transformieren können, sondern wir fragen: Wie gehen wir verantwortungsvoll mit den Verlierern dieses Prozesses um? Wie können wir dafür sorgen, dass sie auch weiterhin Teil der Gesellschaft sein können und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können?

Behavioral Change kann die Welt verändern

Behavioral Change ist ein Begriff, den Ihr stark prägt. Ist das nur ein neuer Marketingansatz um Change zu pushen oder gibt es substanzielle Erfolgsfaktoren?

Behavioral Change ist viel mehr als ein Marketingansatz. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein Problem, das durch die Migrationsströme auch hierzulande immer stärker in den Blick der Politik gerät, ist die weibliche Genitalbeschneidung. Die Frage, die sich die Politik in diesem Zusammenhang stellt, ist: Wie kann man das Verhalten der Eltern ändern? Ein Behavioral Change ist gefragt.

Als erstes brauchen wir also eine profunde Analyse, wieso die Menschen das tun und mit welchen Maßnahmen und Anreizen sich dieses Verhalten ändern lässt. Die gängige Annahme ist, dass es sich bei der Beschneidung von Mädchen um eine kulturelle Praxis handelt. Wenn das tatsächlich so wäre, dann wäre die weibliche Genitalbeschneidung eine soziale Norm, die man nur sehr langsam verändern könnte. Aber ist das tatsächlich so?

In einem Unicef-Projekt im Südsudan versuchten Wissenschaftler verlässliche Zahlen zur weiblichen Beschneidung zu erheben, da es dazu bislang nur Dunkelziffern gab. Ihre Zählung in vielen Dörfern zeigte, dass nur 25-30 Prozent der Mädchen beschnitten wurden. Eine soziale Norm ist damit ausgeschlossen, denn dann lägen die Zahlen bei 80-90 Prozent! Es handelt sich also nicht um eine kulturelle Praxis, sondern um einen Marktmechanismus – und den kann man abkaufen. Wieso gibt es diesen Marktmechanismus? Meistens werden Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen beschnitten, weil ihr „Wert“ dadurch bei einer Heirat extrem steigt. Die Beschneidung ist sozusagen eine Altersvorsorge für die Eltern.

Damit die Beschneidungsrate signifikant sinkt, sind Anreize notwendig, die den „Wert des Kindes“ also anderweitig erhöhen, den Eltern Sicherheit bieten und zudem bestimmte Anforderungen erfüllen. Möglich sind z.B. die Finanzierung der Ausbildung der Mädchen, Einzahlungen in einen Pensionsfonds der Eltern bei gleichzeitigen regelmäßigen kleineren Ausschüttungen. Damit wären die Kriterien Instant Gratification, Langfristigkeit und Kontrollmechanismen erfüllt, die Anreize wirksam machen.

Im Feldexperiment zeigte sich, dass diese Praxis die Beschneidungsrate um 50-70 Prozent senken konnte. Mit einfachen Maßnahmen ermöglicht die Managementtechnologie des Behavioral Change also große Effekte. Dabei halten sich sowohl der Ressourceneinsatz als auch der Zeitaufwand in Grenzen – was gerade für Unternehmen sehr wichtig ist.

Die Zeiten von ineffizienten Wasserfallprojekten sind vorbei. Trotzdem: Nur die wenigsten Führungskräfte haben Ahnung von agilem Management. Was ist Deine Empfehlung für agile Entwicklung?

In Zeiten stabiler Gleichgewichte, in denen sich nicht viel verändert, ist Agilität nicht notwendig. Heute aber verändert sich vieles: Neue Technologien entstehen, in der Folge auch neue Bedürfnisse. Planungshorizonte in Unternehmen verkürzen sich.

Vor allem große Unternehmen wie z.B. Siemens funktionieren nicht als Markt- sondern als Planungseinheiten. Wenn aber nicht-agile Leute agile Methoden anwenden, dann werden sie dadurch auch nicht schneller oder besser. Deshalb ist ein Behavioral Change notwendig.

Denn in der heutigen Zeit ist Wendigkeit gefragt. Unternehmen schaffen den Sprung nicht, indem sie große Veränderungsprozesse anleiern. Sie müssen kleinteilig experimentieren, dann einen systematischen Prozess anstoßen, viel ausprobieren und erst zuletzt ins große Ganze gehen.

Der Name Fehr ist zurzeit en vogue. Dein Bruder Prof. Ernst Fehr wurde vergangenen Herbst im Ranking der wichtigsten Ökonomen in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Abstand zur Nr. 1 gewählt. Beeinflusst Dich seine wissenschaftliche Arbeit?

Ja, seine Arbeit hat mich schon immer beeinflusst. 1992, da war ich 19, habe ich mit ihm zusammen erste Experimente zum Thema Fairness und Reziprozität gemacht. Unser ganzer Ansatz bei FehrAdvice ist getrieben aus den Forschungen der Verhaltensökonomie der letzten Jahre, und da ist auch viel von Ernst dabei. Besonders das Kooperationsverhalten von Menschen, der Einfluss sozialer Normen und Fairness-Präferenzen haben wir in unseren Beratungsansatz integriert, im Labor und im Feld getestet. Und er funktioniert in der Praxis.

Was können wir aus dieser unglaublichen wissenschaftlichen Expertise in die Wirtschaft übertragen?

Die fundamentale Erkenntnis ist, dass wir in vielen Bereichen traditionelle Annahmen über das menschliche Verhalten haben, die aber nicht der Realität entsprechen. Wir müssen viel mehr unsere Grundannahmen hinterfragen. Der schwedische Gesundheitswissenschaftler Hans Rosling sagt: Wir kennen die Probleme der Welt zwar, wollen sie aber mit falschen Annahmen lösen.

Deshalb plädiere ich dafür, Grundannahmen zu hinterfragen und empirisch zu erforschen. Wissenschaftliche Arbeiten haben z.B. gezeigt, dass Menschen viel ehrlicher sind, als wir annehmen. Menschen sind auch viel kooperativer als wir glauben. Aber wenn das System, in dem wir uns bewegen, die falschen Anreize setzt, dann wird auch der kooperativste Mensch unkooperativ. Referenzpunkte über das menschliche Verhalten müssen für Manager, Unternehmen und Politiker deshalb entscheidend sein. Sonst laufen ihre Maßnahmen ins Leere.

Zu guter Letzt: Was treibt Dich am Montagmorgen aus dem Bett?

Ich stehe am Montag auf, weil ich Menschen treffen will, die mich inspirieren und die ich inspirieren darf. Menschen, mit denen ich die Welt verändern und aus meiner Sicht verbessern kann.

Über Gerhard Fehr

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Gerhard Fehr beschäftigt sich mit menschlichem Verhalten und wie man es beeinflussen kann. (Bild: © Fabian Henzmann)

Gerhard Fehr ist beseelt von der Mission, dass es auf dieser Welt bessere Entscheidungen geben kann. Mit einfachen Maßnahmen bringt er Menschen dazu, ihr Verhalten zu verändern.

Gerhard Fehr studierte in Wien BWL, ist ausgebildeter Journalist und hat über zehn Jahre Erfahrung im Management in den Branchen Investment Banking, Medien und dem Schweizer Kreditkartenmarkt. So kennt er Marktmechanismen und Unternehmensprozesse aus eigener Anschauung. Mit seinem theoretischen Wissen über Behavioral Economics war er die treibende Kraft hinter der Entwicklung und Anwendung des Behavioral Economics Ansatzes BEA™.

Als CEO und Gründungspartner der FehrAdvice & Partners AG berät er vor allem über Vergütungssysteme, Preispolitik und Marketing, Verhandlungsstrategien sowie über die Optimierung von strategischen Entscheidungsprozessen.

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