Systeme sind komplexe Gebilde, die in Interdependenz zu ihrer Umwelt und zu anderen Systemen stehen. Wir leben und handeln innerhalb dieser Systeme: In den Unternehmen, im Wirtschaftssystem, in der Schule, in der Gesellschaft – und in vielen anderen Teilsystemen. Die Gestaltung unserer Welt und unserer Zukunft bedeutet also, Systeme zu gestalten und sie zu verändern. Da Systeme aber eigenen Logiken folgen und diese Logik meist komplex ist, ist das gar nicht so leicht. Um positive Veränderungen herbeizuführen, ist systemisches Denken die Voraussetzung. Nur so können wir nachhaltig und strategisch Wandel gestalten.
Systeme: Nicht-linear und komplex
Systeme sind komplexe Einheiten, die in Beziehung zu ihrer Umwelt stehen. Sie erzeugen Wechselwirkungen untereinander. Auch innerhalb von Systemen stehen die verschiedenen Elemente in nicht-linearer Beziehung zueinander. Systeme zu verändern ist damit nicht einfach: Denn sie reagieren aufgrund ihrer Komplexität oftmals unvorhersehbar. Aus Reiz A folgt nicht zwangsläufig Reaktion B.
Ansatzpunkte für die Systemveränderung
Die Systemtheoretikerin Donella Meadows, bekannt geworden durch ihre Mitwirkung an dem Buch „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome von 1972, befasste sich intensiv mit der Möglichkeit der Systemveränderung. In ihrem Aufsatz „12 Places to Intervene a System“ listete sie 12 Hebelpunkte auf, an denen Systemveränderungen möglich sind. Dazu habe ich vor kurzem den Artikel „Hebel: Kraftwandler in der System-Transformation“ veröffentlicht.
Akteure: Handeln im System und am System
Als Systemtheoretikerin fokussiert sich Meadows – logischerweise – auf Systeme und die darin stattfindenden Prozesse. Als Elemente innerhalb der Systeme sind aber auch die Akteure, die in den Systemen und ihren Strukturen handeln, entscheidend. Solche Akteure können Menschen in einer bestimmten Funktion sein, aber auch Unternehmen oder Institutionen. Das Handeln der Akteure wird strukturiert durch die systemische Umgebung, in der sie sich bewegen. Durch Rollenerwartungen, Normen, Gesetze, Regeln und Paradigmen.
Genau diese systemische Umgebung lässt sich aber auch durch Akteurshandeln verändern – wenn die Akteure zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind und den richtigen Hebel nutzen. Akteur und System stehen also in Wechselwirkung zueinander.
Durch systemische Veränderungen, die neue Denkmuster (bei Meadows der erste und damit stärkste Hebel für Systemveränderungen) etablieren, verändern sich ganze Systeme und ihre Funktionsweisen. Damit wird die aktive Gestaltung von Zukunft und die Lösung existenzieller globaler Probleme möglich.
Verändern wir unser Denken, dann verändern wir auch die Zukunft. Denn wir passen unsere Aktivitäten und Gestaltungsmöglichkeiten stets dem an, was wir als „möglich“ erachten. Systemisches Denken und das Erkennen von Zusammenhängen ist eine Grundvoraussetzung für die Gestaltung von Veränderungen.
Systemisches Denken: 8 Thinking Skills
Die Welt ist komplex. Sie ist vernetzt. Und sie ist dynamisch. Unternehmen, die die Zukunft gesellschaftlich und wirtschaftlich verantwortungsvoll und nachhaltig mitgestalten wollen, brauchen deshalb neue Skills. Ihre Führungskräfte und Mitarbeiter:innen müssen systemisch denken, also in komplexen Zusammenhängen unter Berücksichtigung von möglichen Wechselwirkungen zwischen Unternehmen und Umwelt. Rückkopplungen, nicht-lineare und zeitliche Beziehungen müssen daher erkannt werden, um ein tieferes systemisches Verständnis zu schaffen. Es gilt, zugrundeliegende Strukturen, Regeln und Prozesse zu erkennen und zu beeinflussen und damit den Wandel hin zu einer nachhaltigeren, sinnvolleren und faireren Wirtschaft proaktiv voranzutreiben.
Dazu bedarf es neuer Denkansätze, die das Zukunftsinstitut in diesem Whitepaper aufzeigt:
1 | Dynamisches Denken | Ereignisse werden in Zusammenhängen betrachtet. Was lösen sie aus? Wodurch wurden sie ausgelöst? Welche Folgen hat das Ereignis? |
2 | Kreislaufdenken | Erkenntnisse und Ereignisse lösen wiederum neue Erkenntnisse und Ereignisse aus, die Rückwirkungen und Korrekturen nach sich ziehen. Lernen ist ein Prozess, der immer weiter geht und zur Korrektur von anfänglichen Meinungen und Einstellungen führen kann. |
3 | Generisches Denken | Probleme oder Ereignisse sind meist nur die Symptome, der äußere Ausdruck der grundlegenden Struktur. Konzepte, Organisationsweisen oder Unternehmenskulturen müssen hinterfragt und verändert werden, wenn grundlegende Veränderungen herbeigeführt werden sollen. |
4 | Operatives Denken | Praxisorientierung ist wichtiger als das Festhalten an Ideologien oder Meinungen. Ziel muss sein, immer das Beste für die Menschen in einer Organisation zu tun. |
5 | Kontinuum-Denken | Erkenntnisse sind immer nur zeitlich begrenzt gültig. Mit der Weiterentwicklung der Umgebung und der Systeme verlieren auch sie wieder ihre Gültigkeit. Die Entwicklung von Lösungen ist daher ein fortlaufender und niemals abgeschlossener Prozess. |
6 | Wissenschaftliches Denken | Messzahlen dienen dazu, Ergebnisse und Erkenntnisse zu überprüfen und bilden die Grundlage für Entscheidungen. Die Operationalisierung gilt es aber fortlaufend zu überprüfen: Misst die Kennzahl das, was sich wissen will oder muss ich für meinen Zweck ganz andere Messgrößen anwenden? |
7 | System-als-Ursache-Denken | Extern lässt sich Wandel zwar anstoßen – wenn das System jedoch auf Selbsterhaltung pocht, so ist Wandel nicht möglich. Echte Veränderung kann nur von innen heraus angestoßen werden. |
8 | Denken in Modellen | Unsere Denkmodelle müssen wir mit denen anderer Menschen abgleichen, um unsere Weltsicht immer wieder zu überprüfen. |
Systeme verändern durch systemisches Denken
Durch systemisches Denken können wir es schaffen, nicht nur innerhalb des vorherrschenden Systems inkrementelle Veränderungen vorzunehmen, sondern das System als Ganzes zu verändern. Umweltzerstörung und wachsende soziale Ungleichheiten machen das bitter nötig. Es reicht dafür nicht, Symptome zu kurieren – wie zum Beispiel durch Spenden in ärmere Länder. Stattdessen müssen die Meadows’schen Hebel „Strukturen“ und „Denkmuster“ bedient werden. Systemisches Denken ist nötig.
Social Business: Eine neue Form von Kapitalismus
Ein Beispiel für systemisches Denken ist die Social Business-Bewegung mit ihrem Gründer Mohammed Yunus. Durch Social Business soll nicht nur das Symptom – ein zu geringes Einkommen – bekämpft werden. Vielmehr geht es darum, die Strukturen zu verändern, die Abhängigkeiten und Armut befördern und damit um Empowerment. Menschen sollen die Möglichkeit haben, unabhängig für ein würdiges Auskommen für sich und ihre Familien zu sorgen.
Es geht aber ausdrücklich nicht um die Maximierung von Gewinnen (wie im klassischen Kapitalismus), sondern um Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein, faire Entlohnung, Wachstum und die Verbesserung des Unternehmens an sich. Ausbeuterische Strukturen und die Vergrößerung der Schere zwischen Arm und Reich sind damit in der Social Business-Bewegung ausgeschlossen. Kapitalismus und das Wirtschaftssystem werden sozial, gerecht und stellen die Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt in den Mittelpunkt.
System Entrepreneurs verändern Systemstrukturen
Auch durch die Gründung von Unternehmen selbst können sich Systemstrukturen verändern. System Entrepreneurs beeinflussen ihre systemische Umgebung, um grundlegende und normative Strukturen von Systemen in Richtung Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit zu verändern. Ein Beispiel ist das Münchner Startup Sono Motors, das mit dem Sion ein Elektroauto entwickelt hat, das sich über Solarpaneele tagsüber selbst auflädt. Durch die zusätzliche App wird das Auto zur Mitfahrgelegenheit, zum Mietwagen und zur autarken Stromquelle und hat dadurch das Potenzial, die Mobilitäts- und Energieversorgungsstrukturen zu verändern.
Systemischer Wandel – wir brauchen ihn jetzt
Angesichts existenzieller globaler Problemlagen wie dem Klimawandel müssen wir unser Wirtschaftssystem grundlegend hinterfragen – auf globaler Ebene. Es gibt vielversprechende Ansätze, die Akteure in die Lage versetzen, Veränderungen herbeizuführen. Der große Wurf lässt aber noch auf sich warten. Systemisches Denken und das Wissen um die Funktionsweise von Systemen sowie die Ansatzpunkte für Veränderungen sollten sich wirtschaftliche und politische Entscheidungsträger:innen aber schnell aneignen. Denn nur so haben wir alle die Chance auf nachhaltigen und fundamentalen Wandel.
Quelle Coverbild: © Melinda Nagy | Adobe Stock