Welche Rolle Ethik im technologischen Fortschritt spielt entwickelt sich – Gott sein Dank – zu einem immer wichtigeren Thema. Besonders die Skandale um Fake News oder Facebook und Cambridge Analytica mit ihren Manipulationen im US-Wahlkampf haben die Debatte befeuert. Ich habe vor einigen Wochen einen Blogartikel dazu gepostet (der für sehr große Resonanz sorgte), in dem ich zu mehr Interdisziplinarität und der Nutzung geisteswissenschaftlicher Expertise als ethisches Korrektiv in der Technologieentwicklung aufrufe. Während die meisten Vordenker oder Evangelisten auf den Konferenzbühnen der Welt noch in ihren Filterblasen und bei der Problemdefinition weilen, ist das Techfestival, das 2018 zum zweiten Mal in Copenhagen stattgefunden hat, schon einen Schritt weiter. Menschen aus aller Welt haben dort den Copenhagen Catalog entwickelt, der 150 Prinzipien nennt, mit denen digitale Technologien (wieder) zu dem werden sollen, als die sie einmal gedacht waren: Technologien, die dem Menschen dienen und das Leben einfacher und angenehmer machen, Kommunikation und Vernetzung ermöglichen und durch Austausch zwischen Menschen zu einer besseren Gemeinschaft beitragen.
Tech-Hippies in Copenhagen
Liest man den Bericht über das Techfestival in Copenhagen, so bekommt man den Eindruck, es handle sich um ein Hippie-Festival: Gemeinsames Singen von Bob Dylan-Songs, jeder stellt sich mit Vornamen vor und erzählt, wie er sich gerade fühlt. Wichtig ist nicht die Firmenbezeichnung, wichtig ist auch nicht, ob man in der Techbranche arbeitet oder welche Position man im Hierarchiesystem erklommen hat. Wichtig ist, dass sich verschiedene Menschen aus den unterschiedlichsten Disziplinen, Kulturen, Funktionen und Denkrichtungen treffen und sich darüber austauschen, wie Technologie unser Leben beeinflusst und wir sie so gestalten können, dass wir als einzelne Menschen und als Gesellschaften von ihr profitieren. Und damit ist nicht der wirtschaftliche Profit gemeint, sondern der soziale Gewinn durch Kommunikation, Freiheit, Vernetzung, Austausch und gegenseitiger Respekt.
Ein Techfestival für alle
Der Grundgedanke des Techfestivals ist: Jeder nutzt Technologie. Technologie beeinflusst unser aller Verhalten und formt unseren Alltag. Deshalb kann und soll jeder – Experte oder nicht – sich an der Diskussion zur Gestaltung der technologischen Entwicklung beteiligen. Das Festival wird von Freiwilligen organisiert, es gibt keine großen Unternehmen als Sponsoren. Das schafft Freiheit im Denken und keine Verpflichtungen. Die Gebühr beträgt 30 Dollar. In den fünf Tagen des Festivals besuchten 16.000 Menschen die Veranstaltungen.
Der Copenhagen Catalog
Mein geschätzter Netzwerkpartner Lee Bryant hat das Festival besucht. Er war Teil eines Think Tanks, den Thomas Madsen-Mygdal ins Leben gerufen hatte. 150 Menschen entwickelten in diesem Think Tank den Copenhagen Catalog, der Prinzipien für das Design, die Entwicklung und die Nutzung neuer Technologien aufstellt.
Vorläufer des Copenhagen Catalog: Der Copenhagen Letter
Der Copenhagen Catalog basiert auf dem Copenhagen Letter, der im Jahr zuvor folgende Schlüsselprinzipien für digitale Technologien aufgelistet hatte:
- Wir beherrschen die Technologie und nicht umgekehrt.
- Fortschritt ist mehr als technologische Innovation: Wir wollen durch Technologien unsere Gesellschaften weiterentwickeln und sie und ihre Institutionen gerechter und sozialer machen.
- Vertrauen braucht Transparenz: Wir alle müssen verstehen, wie Technologie funktioniert, was mit unseren Daten passiert und wie sie verarbeitet werden.
- Wir müssen das Design von Technologien immer wieder hinterfragen und in den Dialog mit den Usern treten.
- Bewegen wir uns vom kundenzentrierten zum menschenzentrierten Design.
Probleme identifizieren
Nach vielen Jahren des Optimismus in Bezug auf Social Media stellt sich seit einiger Zeit breite Ernüchterung – auch in der Tech-Szene selbst – ein. Es hat sich gezeigt, dass Social Media, Big Data und Algorithmen zwar basisdemokratische Bewegungen befeuern können, aber auch dazu benutzt werden, demokratische Prozesse auszuhebeln, um Menschen und Wähler zu manipulieren. Dies hat der Skandal um Cambridge Analytica gezeigt. Das Unternehmen hatte wohl nicht nur im US-Wahlkampf, sondern auch bei der Abstimmung über den Brexit seine Finger im Spiel. Der Umgangston in den sozialen Medien ist harsch und Äußerungen gehen oft unter die Gürtellinie.
In seinem Artikel über den Copenhagen Catalog schreibt Lee Bryant, dass er als Hauptproblem in der Entwicklung von Social Media die Faktoren Größe und Vertrauen sieht. Denn durch ihr starkes Wachstum und ihre Nutzung als Werbeträger haben sich Facebook, Twitter und Co. von partizipativen Kommunikationsplattformen zwischen Menschen zu anonymen Foren entwickelt.
Lee Bryants Thesen
- Menschen sind viel netter zueinander, wenn sie sich in einem sozialen Kontext, in dem sie einander kennen, befinden. Wenn sie aber daraus losgelöst sind, übernehmen die anonymen Feiglinge und die Trolls die Kontrolle.
- Die Pseudo-Anonymität des Internets bringt Menschen dazu, Dinge in einer Art und Weise zu äußern, wie sie sie ihrem Gegenüber nie ins Gesicht sagen würden.
- Die Logik des Wachstums, wie sie auch sozialen Netzwerken zugrundliegt, hat dazu geführt, dass Feedback-Mechanismen entstanden sind, die kleine Dinge zu Großen machen können – z. B. dass lustige Videos viral gehen. Andersherum funktioniert das aber nicht: Wer falsche Informationen gepostet hat, die sich schnell verbreiten, kann diese kaum noch einfangen.
Copenhagen Catalog: 150 Thesen für eine humanzentrierte Technologieentwicklung
Grundlage des Copenhagen Letters und des Copenhagen Catalog ist die Auffassung, dass die technologische Entwicklung ein humanistisches und ethisches Korrektiv braucht, die dazu führt, dass Technologien wieder für den Menschen und seine Bedürfnisse designt werden und nicht zum Wohle von Konzernen, Regierungen und Machthabern dienen. Sie sollen Demokratie und Transparenz fördern, statt intransparent und manipulativ zu wirken. Die 150 Prinzipien, die diese Ziele verwirklichen sollen, könnt ihr auf der Seite Copenhagen Catalog nachlesen. Dort könnt ihr auch für bestimmte Thesen unterschreiben, so entwickelt sich der Katalog partizipativ weiter.
Wer sich für mehr Ethik und humanzentrierte Technologieentwicklung einsetzt, sollte diese Initiative unterstützen. Bitte unterschreibt und teilt diese Prinzipien in Eurer Community. Wir alle sind verantwortlich für die Gestaltung von Technologie! Lasst uns damit anfangen.
Quelle Titelbild: Screenshot von https://www.copenhagencatalog.org/