Lindenschmetterlinge schlüpfen aus Kokons und beenden ihre Metamorphose, Lichteinfall von oben
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Erschöpfter Kapitalismus: 4 Schlüsseltrends für den Big Business Change

Der Blogbeitrag ist ein Auszug aus dem Zukunftsreport 2022. Weitere Informationen finden Sie im Überblick in diesem Beitrag.

Nach dem Philosophen und Psychologen Paul Watzlawick gibt es zwei Arten von Wandel. Im Buch „Change“ beschreibt er den „Wandel erster Ordnung“ als die graduelle Veränderung innerhalb eines gegebenen Systems: Durch viele kleine Korrekturen wird ein verlorener Gleichgewichtszustand wiederhergestellt. „Wandel zweiter Ordnung“ ist hingegen eine Umformung, eine Metamorphose: der Sprung auf eine neue Ebene, in einer völlig neuen Umwelt.

Wandel ist kein Selbstzweck. Beide Wandlungsformen machen auf ihre Weise „Sinn“. So können viele Unternehmen mit leichten Korrekturen auskommen: Sie sind resilient und adaptiv, innovativ „aus dem Herzen“ und werden auch unter veränderten Umweltbedingungen blühen und gedeihen. Viele andere Unternehmen werden in diesem Jahrzehnt ihre Wertschöpfungsketten auf radikale Weise umbauen und umstellen müssen – oder sie werden vom Markt verschwinden. Das ist an sich nichts Neues, das Spiel nennt sich „Wirtschaft“. Allerdings sind die Regeln nun andere als in den vergangenen 50 Jahren, in den Blütezeiten des „fossilen Kapitalismus“. 

Erschöpfte Branchen: Das Over-Prinzip

In vielen Branchen hat sich eine fatale Dynamik des „Immer mehr vom Gleichen“ entwickelt. Die reine Fixierung auf Umsatz, Wachstum und Effizienzsteigerung hat eine toxische Turbokonkurrenz entstehen lassen. Die Folgen sind Übersättigungen, die ganze Branchen in eine Strukturkrise reißen können. Vor zehn Jahren scheiterte der Bankensektor an seinen eigenen Dynamiken. Heute driften immer mehr Branchen in eine Krise der Übersättigung und des Exzesses:

  • Over-Tourismus: Die Überfüllung von Stränden, Städten, Landschaften durch Massenreisen stößt an ihre Grenzen. Das hat die Coronapandemie deutlicher denn je gemacht.
  • Over-Food: Viele Nahrungs- und Genussmittel sind zu einem Suchtproblem geworden. Überernährung und -kalorisierung stellen heute massive gesellschaftliche Probleme dar, die nicht ohne Konsequenzen für die Food-Industrie bleiben werden.
  • Over-Fashion: Die rasende Taktung der Kollektionen hat die Branche an den Rand der Selbstzerstörung gebracht.
  • Over-Handel: Die Ausrichtung des Handels auf die Outlet-Vermehrung hat zu einer Krise der Innenstädte beigetragen. Immer mehr Malls und Einkaufszentren rechnen sich nicht mehr, die Margen sinken, der Online-Handel wächst. 
  • Over-Medien: Die Aufmerksamkeitsökonomie führt zu einer Destruktion von Information und Diskurs. Medien werden von einer Clickbaiting-Logik erfasst, die das mediale System in Richtung einer Selbstsabotage lenkt.
  • Over-Medizin: Die Coronakrise hat gezeigt, dass der medizinische Komplex zwar im Detail leistungsfähig ist, aber konfus in den Interaktionen und systemischen Wirkungen.
  • Over-Marketing: Die Fixierung auf den Preis als ausschließliches Marktargument führt zu (Selbst-)Destruktionen. Billigflugtickets werden mit einer Ausquetschung der Passagiere durch Zusatzkäufe und -kosten erkauft; Angst- und Hassproduktion wird zum Teil eines medialen Wertschöpfungskonzepts; Billigfleisch verkauft sich als Schleuderware allein durch den Preis. Der Markt versagt in seiner Kernaufgabe: der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse.

Digitale Illusionen und Beziehungsfragen

Die Digitalisierung hat die Lage im Herzen der Märkte nur noch verschärft. In vielen Unternehmen wurde sie halbherzig und als reines Rationalisierungsinstrument eingesetzt. Damit können aber auch die authentischen (analogen) Beziehungen zu den Kundinnen und Kunden verloren gehen. Statt dem „Gespräch des Marktes“ finden nur noch algorithmische Operationen statt, mit denen man sich die Kundinnen und Kunden, die nun zu Kostenfaktoren geworden sind, vom Leib hält. Digitale Plattformkonzepte neigen wiederum zu monopolistischen Strukturen, in denen die Gewinner den ganzen Markt für sich beanspruchen. Das heroisierte Prinzip des Start-ups als geldverlierende Geldmaschine erweist sich mehr und mehr als Wolkenkuckucksheim. Silicon Valley, das gelobte Business-Land, hat längst seinen Glanz verloren.

Die Basis für erfolgreiche Unternehmungen bilden Beziehungen, die von Vertrauen geprägt sind. Fünf Jahrzehnte nach dem Big Boom des Konsumkapitalismus geraten wir nun in eine neue Phase, in der sich der unternehmerische Beziehungsradius erweitert. Eine neue Beziehung des „Kapitals“ zu Gesellschaft, Natur und Individuen (zum Beispiel Mitarbeitenden) entsteht, eine neue Ausrichtung von Innovationen – die nun einen echten Beitrag zur Lösung von Problemen liefern können und müssen, die früher der Politik oder der Gesellschaft zugeschrieben wurden.

Dieser „ethische Druck“ führt zu einer Umlenkung der Kapitalströme. Zu den höchstnotierten Firmen der Welt gehören heute TeslaImpossible Foods und BioNTech. Erneuerbare Energien und zirkuläre Materialtechniken sind die neuen Leitbranchen. Milliarden fließen in den Dekarbonisierungssektor. Die großen Finanzfonds sortieren ihre Assets neu in Richtung nachhaltiger Transformationskriterien. Die neue Sinn-Ökonomie, die in diesem Prozess entsteht, umfasst vier zentrale Bereiche: 

  • die Mitarbeitenden als Mit-Akteure und Mit-Unternehmende jenseits von alten Abhängigkeiten
  • die Gesellschaft und ihre Zukunftsbedürfnisse in einer postfossilen Wirtschaft
  • die Produktionsbedingungen und ihre Kreisläufe
  • die Natur, repräsentiert durch Klima und Artenvielfalt

Existenzielle Flexibilität

Simon Sinek, der Erfinder des „Why“-Prinzips, hat in „The Infinite Game“ den Begriff der „existenziellen Flexibilität“ für die Wandlungsfähigkeit von Unternehmen eingeführt. Stephan A. Jansen, ehemaliger Direktor der Zeppelin Universität, Deutschlands innovativster Hochschule für Wirtschaft, Kultur und Politik, spricht von einem „kognitiven Kapitalismus“: einem Kapitalismus, der sich selbst reflektiert und in den Verbindungslinien menschlicher Bedürfnisse, Wachstumsprozesse und Bildungsformen operiert. 

Wegweiser in der Natur mit den Aufschriften Quality, Integrity, Trust
Die Zukunft erfordert eine echte Verbindung von menschlichen Bedürfnissen, Wachstum und Bildungsformen.
(Bild: © Jon Anders Wiken | stock.adobe.com)

Um diese neue Komplexität zu verstehen, wird das geistige Element von Führung elementar. Zu transformativem Wandel, dem „Wandel zweiter Ordnung“, gehört das, was Watzlawick die „sanfte Kunst des Umdenkens“ nannte. Der kommende Business-Wandel ist vor allem ein Bewusstseinswandel, ein Sinneswandel in Führung und Management. Es geht um ein neues Denken, in dem Unternehmen „erwachsene“ Verbindungen zu ihren Stakeholdern aufbauen. 

4 Schlüsseltrends für den Big Business Change

Glokalisierung

Das Zeitalter der immer länger gedehnten Wertschöpfungsketten neigt sich dem Ende zu. Die Just-in-time-Produktionen, die sich über den ganzen Erdball erstrecken, werden teurer und fragiler. Künftig wird das ganze „Sourcing“ und Produzieren wieder mehr im lokalen Raum stattfinden. Produkte bekommen entweder eine Ursprungsgeschichte – oder sie werden zu reinen Nutzungen. 

Co-Individualismus

Die Ära der unbedingten Karriereorientierung ist vorbei, insbesondere die Lebenskonzepte und -muster jüngerer Generationen richten sich zunehmend an persönlichen Sinn- und allgemeinen Gemeinschaftsfragen aus. Damit gewinnen Kulturfragen die Oberhand. Unternehmen müssen Antworten jenseits der klassischen Entlohnungs- und Bindungskonzepte finden.

Human-Digitalität

Die Digitalisierung geht in die Revisionsrunde. Die digitalen Hypermythen scheitern an sich selbst, an ihrer Hybris und ihrer Übertreibungssucht. Nun geht es um digitale Formen, die an menschliche Bedürfnisse (und Grenzen) angepasst sind – und in denen die Künstliche Intelligenz nicht die menschliche Intelligenz ignoriert und beleidigt, sondern auf intelligente Weise ergänzt und „empowert“.

Blue Shift

Die Zukunft gehört nicht der frommen grünen Wirtschaft des Verzichts, sondern der systemisch-dynamischen blauen Wirtschaft. Blau steht für Vision und Hoffnung, für systemische Innovationen und Technologien, die uns weg von Öl und Kohle führen – und gleichzeitig die humane Lebensqualität erhöhen. Für eine Zivilisation, die eine neue Verbindung zur Natur und zu den Potenzialen menschlicher Kulturen und Gemeinschaften aufnimmt.

(Quelle Titelbild: © Parilov | stock.adobe.com)

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