Mann bewegt mithilfe von Hebel schweren Stein
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Hebel: Kraftwandler in der Transformation

In der Physik ist ein „Hebel“ ein mechanischer Kraftwandler mit einem Drehpunkt. Das Prinzip dahinter: Kleiner Aufwand, große Wirkung. Auch Systeme lassen sich durch einen Impuls von außen am richtigen Ansatzpunkt verändern. Die Systemtheoretikern Donella Meadows, Wissenschaftlerin und Umweltaktivistin, bekannt als Mit-Autorin von „Die Grenzen des Wachstums“ (1972, Club of Rome) hat zwölf Hebel identifiziert, mit deren Hilfe sich Systeme grundlegend verändern lassen. Ihre Erkenntnisse sind ein Schlüssel für grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen.

Warum wir JETZT einen Wandel brauchen

Wir wissen das alles seit Jahrzehnten. Zehntausende von Wissenschaftler:innen zeigen uns stetig, wie der Mensch und seine Art des Wirtschaftens unsere Spezies immer weiter an den Rand des Abgrundes treibt. Wir stehen vor existenziellen Herausforderungen, deren Dimensionen enorm sind. Allen voran: Der Klima- und Umweltwandel. Dass hier etwas passieren muss, ist mittlerweile den allermeisten Entscheidungsträger:innen glücklicherweise klar. Im Pariser Klimaabkommen verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen.

Klimawandel: Eine ungerechte Bedrohung

Die Bedrohung durch den Klimawandel trifft nicht alle gleich hart oder gleich schnell. In einigen Ländern ist schon heute aufgrund von Wasserknappheit kaum mehr Landwirtschaft und damit Ernährung der Bevölkerung möglich. Andere Staaten drohen zu verschwinden, wenn die Meeresspiegel noch weiter steigen. Während wir uns über wärmere Sommer und neue Weinsorten, die früher nur in südlichen Ländern wuchsen, freuen, sterben anderswo Menschen aufgrund von Naturkatastrophen wie Wirbelstürmen oder wochenlangem Starkregen.

Der Klimawandel ist nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein soziales Problem, das innergesellschaftliche und globale Ungleichheiten noch weiter verschärft. Wir leben in Deutschland so, als hätten wir nicht nur den Planeten Erde, sondern auch noch die Planeten B und C zur Verfügung. Der Earth Overshoot Day errechnet weltweit den Tag, an dem ein Land seine natürlichen Ressourcen verbraucht hat. Global war das der 5. Mai 2021. Deutschland lebt und wirtschaftet mit einem Verbrauch ökologischer Ressourcen von 2,9 Erden, also fast drei mal mehr, als uns eigentlich zustünde. Und das Jahr für Jahr – ohne Rücksicht auf Verluste.

Klimaschutz: konkrete Maßnahmen sind nötig

Wenn wir den Klimawandel – und mit ihm verbundene Missstände – wirklich begrenzen wollen, dann müssen wir JETZT handeln. Wir haben nicht mehr als rund fünf Jahre, um irreversible Schäden durch das Erreichen sogenannter Kippunkte zu vermeiden. Dafür reicht es nicht, ein paar Ziele festzulegen, sondern wir brauchen konkrete Maßnahmen, um diese auch zu erreichen. Verbot von Verbrennungsmotoren. Abschaltung von Kohlekraftwerken. Intelligente Verkehrswende. Begrenzung von Flächenversiegelung. Stop der Überdüngung. Reduktion des Fleischkonsums. Förderung der Artenvielfalt. Abschaffung von Steuerunterstützung für Diesel, Plastik und Kerosin… und so weiter.

Warum ist Veränderung so schwer?

Gut, alle scheinen es in Theorie kapiert zu haben: Der Klimawandel existiert und er bedroht unsere Zukunft. Warum schaffen wir es trotzdem nicht, wirklich wirksame Maßnahmen dagegen zu ergreifen?

Systemisch-strategisches Denken ist nötig

Eine Antwort darauf liefert die Systemtheorie. Wir alle sind Teil komplexer Systeme mit ineinandergreifenden Elementen. Das Denken in Jahresabschlüssen (Logik in Unternehmen) oder in Wahlperioden (Logik in der Politik von Demokratien) ist deshalb kontraproduktiv, wenn es um die Lösung komplexer und langfristiger Probleme wie dem Klimawandel geht. Vielmehr müssen wir systemisch-strategisch denken (lernen), um die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen. In der BANI Welt, in der wir leben, sind lineare Ursache-Wirkungsprinzipien Teil des Problems und nicht der Lösung.

Die Systemtheorie von Donella Meadows

Wer das bereits vor vielen Jahren erkannt und uns erklärt hat, ist die großartige Systemtheoretikern Donella Meadows. Sie war eine der Forscherinnen, die in den 1970er Jahren an den Modellrechnungen zu den „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome beteiligt war. Ein System definiert sie in ihrem Buch „Die Grenzen des Denkens“ als

„… eine Ansammlung von Dingen – Menschen, Zellen, Molekülen oder sonst etwas – die so miteinander verknüpft sind, dass sie ein für dieses System charakteristisches Zeitverhalten hervorbringen. Das System kann von äußeren Einwirkungen hin und her geworfen, in seinem Verhalten eingeschränkt, erregt oder angetrieben werden. Aber jedes System reagiert auf diese Einwirkungen auf seine eigene charakteristische Art und Weise, und in der Realität ist diese Reaktion selten von einfacher Art.“

Donella Meadows 2019: Die Grenzen des Denkens. München, oekom Verlag.

Systeme mit eigener Logik

Jedes System hat also seine eigene Logik, nach der es funktioniert. Innerhalb des Systems und bezogen auf sein Ziel ist das auch durchaus gewinnbringend, wie es auch Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie darstellt.

  • So spricht die Justiz Recht und funktioniert nach der Logik Recht vs. Unrecht.
  • Die Politik trifft regulatorische Entscheidungen und funktioniert nach der Logik Macht vs. Machtverlust.
  • Und die Wirtschaft will wachsen und funktioniert nach der Logik Gewinn vs. Verlust.

Das Problem an der Sache: Jedes System produziert auch Störungen und negative externe Effekte auf andere Systeme. Zum Beispiel Umweltzerstörung, Hunger, Armut, wachsende soziale Ungleichheiten. Diese negativen Effekte fließen aber nicht in die Bilanz des Systems ein. So berücksichtigt das System Wirtschaft zum Beispiel keine Verluste, die sich nicht finanziell beziffern lassen. Das Forschungsprojekt „Ariadne“ (Juni 2021) liefert erstmals fundierte Daten der externen Kosten des Wirtschaftens in Deutschland und beziffert die wirtschaftlichen Kosten der Umweltzerstörung und deren Folgekosten auf rund 13% des BIP, umgerechnet bis zu 670 Milliarden EUR pro Jahr.

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

Albert Einstein

Bedeutet das nun, dass Systeme unveränderlich sind, weil sich ihre Logik nicht ändern kann?

Nein, sagt Donella Meadows. In jedem System gibt es bestimmte Ansatzpunkte, an denen sich das System verändern lässt. Diese Punkte nennt sie „Leverage Points“, Hebelpunkte.

Meadows‘ zwölf Hebelpunkte sind graduell abgestuft in einem Countdown aufgezählt: Von kleiner Wirksamkeit (12) bis hin zu starker Wirksamkeit (1). Wie bei einem Hebel in der Physik ist der stärkste Hebel am schwersten zu bewegen, erzielt aber auch die größte Wirkung.

Die Hebelpunkte von Donella Meadows

12Konstanten, Parameter und Zahlen: Das können Industrienormen, Abgaben und Gebühren oder Subventionen sein. Denken wir einmal an die Diskussion um das Ende der Kohlesubventionierung in Deutschland, dann bekommen wir eine Ahnung davon, wie schwer es schon ist, diesen kürzesten Hebel zu bewegen. Und natürlich bringt er auch Veränderungen mit sich – aber keine grundsätzlichen Verhaltensänderungen.
11Umfang von Beständen und Vorräten im Verhältnis zum Materialfluss: Dieser Punkt zielt auf Kipppunkte ab. In Deutschland fahren wir unsere Autos 15 Jahre oder länger, dann werden sie exportiert. Dadurch lassen sich Veränderungen im Verkehrssektor durch sinkende Emissionen nur sehr langsam erzielen.
10Infrastruktur der Vorräte und Materialflüsse, zum Beispiel das Verkehrsnetz oder Transportnetzwerke. Auch die Altersstruktur der Bevölkerung zählt dazu. Diese Strukturen zu verändern ist sehr langwierig und dauert Jahrzehnte.
09Länge von Verzögerungen im Verhältnis zur Veränderungsrate des Systems. Dauert es zu lange, bis Veränderungen herbeigeführt werden, potenzieren sich die negativen Effekte weiter – Beispiel: Betriebszeiten von Kohlekraftwerken. Sind sie hingegen zu kurz, so drohen Überreaktionen. Bei Eingriffen ist es in der Regel leichter, Fristen nach hinten zu verschieben als Abläufe zu beschleunigen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Systeme sich selbst erhalten wollen.
08Stärke regulierender Rückkopplungsschleifen im Vergleich zu den externen Effekten, die sie korrigieren sollen. Ein Beispiel ist die Bepreisung von CO2, um die negativen Effekte von industrieller Produktion, Verkehr und so weiter zu mindern. Ist der Preis hoch (starke regulierende Rückkopplungsschleife), so ist die Wirksamkeit hoch und der CO2-Ausstoß wird vermutlich sinken. Ist der Preis dagegen niedrig, so ist die Wirksamkeit gering – Unternehmen werden bezahlen und ihre CO2-Emissionen nicht verringern.
07Anstiegsrate verstärkender Rückkopplungsschleifen. Auch hier sind wir bei den Kipppunkten: Verstärkende Rückkopplungsschleifen sorgen für Wachstumssteigerungen bis hin zu exponentiellen und explosiven Entwicklungen, Erosion und Zusammenbruch von Systemen. Beeinflusst man diese verstärkende Rückkopplungsschleifen, indem man sie verzögert, so lassen sich große Wirkungen erzielen.
06Informationsfluss: Wer hat Zugang zu Informationen? Wie leicht ist dieser Zugang? Informationen sind die Voraussetzung für die Beeinflussung der Rückkopplungsschleifen, da nur durch Informationen Bewusstsein geschaffen werden kann. Kennt man zum Beispiel den eigenen Stromverbrauch, so hat man auch die Möglichkeit, diesen zu reduzieren.
05Regeln des Systems: Gesetze, Strafen oder Anreize sind wirksame regulatorische Mittel, um Systeme zu verändern. Das Verbot von FCKW infolge des Abkommens von Montreal zum Beispiel sorgte Anfang der 1990er dafür, dass global kein FCKW mehr in Kühlschränken, Kühltruhen, Deodorants, Haarsprays und sonstigen Haushaltssprays mehr verwendet werden darf. Seitdem regeneriert sich die Ozonschicht wieder.
04Systemstruktur: Die Änderung der Systemstruktur bedeutet die Kompetenz, Änderungen in den Punkten 5-12 herbeizuführen und damit die Grundlagen der Systemfunktionen zu ändern. Man könnte die Systemstruktur auch als „Systemverfassung“ bezeichnen, da sie die Grundlage für die Funktion des Systems bildet.
03Systemziele: Fast alle Systeme wollen sich selbst erhalten oder wachsen. Die genauen Ziele sind im System oft nicht sichtbar.
02Paradigma des Systems: Paradigmen sind vorherrschende Denkmuster und Wertvorstellungen. Auf ihnen beruht das System mit allen Regeln und Parametern. Das Paradigma eines Systems ist meistens unausgesprochen, wird als selbstverständlich und damit unveränderlich begriffen. Beispiele sind der Schutz von Eigentum, der Wert von Geld,   das „gute Leben in Wohlstand“, „Leistung muss sich lohnen“ und so weiter.
01Macht, Paradigmen zu überwinden: Diese Macht ist der stärkste Hebel zur Systemveränderung. Wer erkennt, dass Paradigmen letztlich menschliche Erfindungen sind und unsere Realität konstruieren, ist auch in der Lage, diese Paradigmen zu ändern und damit ganze Systeme zu Einsturz zu bringen oder neue zu erfinden. Neue Paradigmen schaffen neue Realitäten.
Die zwölf Hebelpunkte, an denen eine Systemveränderung ansetzen kann nach Donella Meadows

Wann sind Veränderungen möglich?

Donella Meadows Hebelpunkte sind wichtige Hinweise, wie wir Systeme verändern können. Sie zielen stets auf die Logik des Systems ab. Denn Systeme sind komplex, was bedeutet, das Ursache-Wirkungszusammenhänge oft unklar sind, da die Systemelemente auf vielfältige Art und Weise miteinander verknüpft sind und aufeinander sowie auf die Umwelt reagieren. Lineares Denken funktioniert in komplexen Systemen nicht, auch wenn diese Glaubensbekenntnisse immer noch in den 250 Jahren alten wissenschaftlichen Modellen der BWL und VWL verankert sind. Das macht es nicht besser. Im Gegenteil.

Aber es geht beim Ansetzen eines Hebels nicht nur um das „Wie“, sondern auch um das „Wann“. Denn es gibt bestimmte Zeitpunkte, an denen sich Veränderungen leichter herbeiführen lassen als an anderen. Das gilt vor allem für die stärkeren Hebel.

Window of Opportunity

Die Theorie der Pfadabhängigkeit nennt diese Punkte „Critical Junctures“, also kritische Wendepunkte. Solche Wendepunkte können evolutionär oder revolutionär entstehen:

  1. Evolutionär: Immer weiter ansteigende Störungen und negative Effekte akkumulieren sich und führen langsam aber sicher zum Zusammenbruch des Systems. Beispiel: Im Arabischen Frühling kam der wachsende Unmut der Bevölkerung über Unterdrückung durch eine korrupte herrschende Klasse zum Ausdruck, die schließlich zum Sturz von zahlreichen Regierungen führte.
  2. Revolutionär: Einen externer Schock, ein plötzliches Ereignis von außen bringt das System dazu, sich grundlegend zu verändern.

Dann öffnet sich ein Fenster der Möglichkeit, ein „Window of Opportunity“, in dem für einen kurzen Zeitraum Wandel leichter möglich wird, bevor sich das Fenster wieder schließt.

Externer Schock: Reaktorkatastrophe von Fukushima

Ein solches Fenster öffnete sich beispielsweise durch den externen Schock der Reaktorkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011. Trotz vorher gegenteiliger Beteuerungen zog die damals schwarz-gelbe Bundesregierung binnen weniger Tage den Atomausstieg vor – das letzte Kernkraftwerk wird in Deutschland 2022 abgeschaltet.

Das Paradigma der sicheren Energieversorgung (Hebel 02) änderte sich.

War zuvor argumentiert worden, dass Kernkraftwerke unabdingbar für die konstante Energieversorgung seien und damit der „Ausstieg vom Ausstieg“ 2010 begründet worden, änderte sich nun aufgrund der Reaktorkatastrophe in Japan das vorherrschende Denkmuster. Im Vordergrund stand nun nicht mehr die Angst vor Versorgungsengpässen, sondern die Angst vor einem GAU auch hierzulande. Hinzu kam die Forcierung der Energiewende, also der Umstieg auf erneuerbare Energien, der durch den nun doch schneller geplanten Ausstieg aus der Atomenergie neuen Antrieb bekam.

Corona: Katalysator für grundlegende Veränderungen?

Auch die aktuelle Corona-Pandemie hat das Potenzial, vorherrschende Denkmuster zum Einsturz zu bringen. Unser aller Leben hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren mitunter dramatisch geändert. Viele Menschen bringt das zum Umdenken. Im Hinblick auf Mobilität, Arbeiten, Freizeitgestaltung, Wachstum, Gesundheit, Gemeinsein, Naturverbundenheit. Wertvorstellungen und Schwerpunkte ändern sich. Gleichzeitig verstärken sich Ungleichheiten – national und global. Der Problemdruck steigt. Wir haben am Zukunftsinstitut zu Beginn der Corona Pandemie vier Szenarien in einer Studie erarbeitet, die einen mehr oder weniger starken Paradigmenwechsel durch Corona einleiten können.

Wir befinden uns also erneut an noch kritischeren Wendepunkten, neue Möglichkeitsfenster haben sich geöffnet. Gehen wir hindurch, nehmen wir die passenden Hebel und gehen wir globale Probleme wie den Klimawandel ernsthaft an.

Die Zeit drängt, und die Zeit ist reif.

(Quelle Titelbild: © Morphart | stock.adobe.com)

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